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Die neuen Serapionsbrüder (2., verbesserte Auflage)

Abteilung I, Band 17 Herausgegeben von Kurt Jauslin

Gutzkows Werke und Briefe
Erzählerische Werke Band 17


Zum ersten Mal nach seinem Erscheinen 1877 wird jetzt Gutzkows letzter Roman »Die neuen Serapionsbrüder« wieder aufgelegt und kommentiert herausgegeben, und zwar als erster Textband der vom Editionsprojekt Karl Gutzkow geplanten Gesamtausgabe.
Daß nach seiner Publikation ein überaus bemerkenswerter Beitrag zur bürgerlich realistischen Schreibkultur schon sehr bald in Vergessenheit geriet, kann nur verwundern, wie auch Arno Schmidt in seiner hellsichtigen Bitte um mehr Aufmerksamkeit für die »Ritter vom Geist« erstaunt festgestellt hat.
Denn Gutzkow entwirft modellartig ein Spiegelbild der Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, anknüpfend an seine großen »Panorama-Romane« der 50er Jahre, »Die Ritter vom Geiste«, »Der Zauberer von Rom«.
Und einsichtig wird jetzt, mit welchen Schwierigkeiten und Konsequenzen, gerade poetologischer Art, es Gutzkow gelingt, seine bis auf den heutigen Tag zukunftweisende Idee eines »Romans des Nebeneinander« bis in die Gründerjahre fortzuschreiben. Konturen eines Querdenkers werden sichtbar in den Hohlräumen literarischer Normierung, weil sich sein Werk einer eindeutigen Verortung im »poetischen Realismus« und dann auch Spielhagens gleichzeitig formulierter Romantheorie irritierend dissonant entzieht.
Die Neuausgabe des Erstdrucks ist seitenidentisch mit der digitalen Ausgabe im WorldWideWeb.gutzkow.de, so daß die ausführliche Kommentierung des Textes, verstanden als work in progress, dort bequem und anwachsend nachgelesen werden kann.

Zum Inhalt des Romans:

»Die neuen Serapionsbrüder« handeln vom Niedergang der altliberalen bürgerlichen Gesellschaft und vom Aufstieg einer neuen Klasse von Spekulanten, die ohne Rücksicht auf das allgemeine Wohl ausschließlich an der Maximierung der Gewinne interessiert sind. Während die alten Ideale schwinden und die alten Vorurteile sich weiter halten, wird das neue radikal kapitalistische System der Wirtschaft durch die globale Wirtschaftskrise von 1873 schwer erschüttert.
Im Mittelpunkt des Romans, der in Berlin spielt, steht eine Gruppe junger Leute unterschiedlicher Herkunft, die ihr privates und berufliches Glück machen wollen, ohne sich um abgelebte Prinzipien zu kümmern aber auch ohne ihre persönliche Integrität zu verlieren. Ihnen zur Seite steht die Gesellschaft der neuen Serapionsbrüder, deren Mitglieder den Fortschritt der Korruption in Politik und Gesellschaft kommentieren.
Mit seiner Darstellung eines sozialen Umbruchs von einer aufgeklärten Idealen verpflichteten zu einer ausschließlich an egoistischen Zielen orientierten Gesellschaft, erweist Gutzkows Roman eine erstaunliche Aktualität.


Germanistik
Internationales Referatenorgan, Niemeyer

Band 44 (2003) Heft 3 / 4

Die Kommentierte digitale Gesamtausgabe der Werke von Karl Gutzkow veröffentlicht als l. Textbd. der Edition G.s letzten Roman Die neuen Serapionsbrüder (1877), seinen Gesellschaftsroman über die Gründerzeit. K. Jauslin hat den Text editorisch bearbeitet und das Nachwort verfaßt, das die Zusammenhänge zwischen politisch-moralischer Position des Autors, seiner Zeitkritik und der Erzählform erhellt. Dem Bd. ist eine CD-ROM beigefügt, die den Text des Romans sowie den dazugehörigen philologischen Apparat (ohne den der Printversion vorbehaltenen Kommentar) und darüber hinaus Beispiele aus anderen Werkgruppen (Novellistik, Schriften zu Politik und Literatur, Briefe, Autobiographik) enthält. Die CD dokumentiert die Texte wie die Resultate der Editoren-Arbeit zum Zeitpunkt der Drucklegung des Bandes. Die jeweils aktuellste Version der Arbeit an allen Bänden der Edition wie der bearbeiteten Texte ist im Internet (www.gutzkow.de) zugänglich, und zwar nicht nur für die Mitarbeiter am Editionsprojekt – Literatur- und Buchwissenschaftler aus Deutschland, England und Irland, sondern für jedermann. Da ein Teil der von G. verfaßten Schriften nur im Internet bzw. auf CD veröffentlicht werden soll, ist es möglich, große Textmassen zur Lektüre wie zur elektronischen Recherche und Bearbeitung bereitzustellen. Die wissenschaftliche Erschließung dieses Korpus ist als ›work in progress‹ konzipiert, zu dem nicht nur die systematische Arbeit der Hrsg., sondern auch die Kenntnis und die Kooperationsbereitschaft jedes Kundigen beitragen kann. Man muß der Edition attestieren, daß sie überzeugende Wege gefunden hat, ein umfangreiches, in vieler Hinsicht wichtiges, aber eben nicht kanonisches Oeuvre in einer modernen technischen Form zugänglich und dadurch auch wieder interessant zu machen.
Bernhard Spies, Mainz

Rolf Vollmann in seinem Roman-Verführer:

»1877: Gutzkow aber bringt sein letztes Werk heraus, Die neuen Serapionsbrüder, mit einem Titelanklang zwar an ETA Hoffmann, sonst aber eher an Raabe erinnernd (umgekehrt ist es aber wohl dieser, der hier beim späten Gutzkow weitermacht), aber souveräner als Raabe bisher, wenn auch souverän mitunter in Richtung einer gewissen nachlassenden Konzentration aufs Detail, wenn in einer Kutsche die junge Frau von dem Grafen bedrängt wird; Nacht, Stille, die Landstraße, baumlos; dann, wie das Gespräch für sie immer heikler wird, Regen, Wind, und nun: ›... der Graf rückte dem bedrängten Mädchen bei diesen Plaudereien immer näher. Im Aufruhr der Elemente fühlte sie ihre Schwäche. Der Wind peitschte die Bäume. Es standen doch jetzt endlich wieder welche am Wege ...‹ – das ist es, nur Meredith würde in dieser Zeit wohl so schreiben. Bezaubernd auch der alte Mann hier über den Mond: ›Dennoch glaubte sie an ihn‹ – eine junge Frau an ihren Geliebten – ›und sah im Monde, wie dieser da so voll und schön über dem schwarzen Tannenwald stand, den Regulator aller geheimnisvollen Lebensbeziehungen von Ost und West, Süd und Nord. Dieser seltsame Stern behütete jede Herzensverbindung, war der Bestärker im Hoffen und Glauben, machte auch Ebbe und Flut, den Herzschlag des Erdenlebens ...‹ – ist der Mond ein Stern?«
Rolf Vollmann, Die wunderbaren Falschmünzer. Ein Roman-Verführer, Bd.2: 1876-1930, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 541f.


Leseprobe:

Als Ottomar gemeldet und eingetreten war, begrüßte ihn Graf Udo ebenso in Gegenwart eines Dritten, wie gestern, als sie allein gewesen. Daran erkennt man die Menschen, wie sie es wahrhaft mit uns meinen. Im Kreise Anderer sich als dieselben wohlwollenden, gütigen Freunde zeigen, wie unter vier Augen, das ist die Probe der Aechtheit. Mit zugekniffenen Augen und süßsaurer Freundlichkeit grüßte Baron von Forbeck. Auch er fing an, sich herablassend und im Junkerton der Studienzeit zu erinnern. Ottomar gab zu, daß sich Beide, wenn sie auch in verschiedenen Corps standen, ein Semester hindurch als Commilitonen hätten betrachten können. Ohne sich im Mindesten durch den Besuch stören zu lassen, setzte der in den Offizierstand Uebergegangene, der den Krieg mitgemacht und dann plötzlich quittirt hatte (Andere sagten, quittiren mußte), Cigarrenwolken entsendend (Graf Udo bot dem Eingetretenen, nach gegenseitiger Vorstellung der sich seither Entfremdeten, die offene Kiste dar und schien wohl der Tante wegen erfreut, als Ottomar ablehnte und nicht rauchte, wie er selbst), Forbeck setzte, sagen wir, seinen Vortrag fort, der den Reminiscenzen an den Krieg galt: Nun, Sie haben ja auch die Campagne mitgemacht! sprach er zu Ottomar. Ich erzähle von unsern Champagnerjagden! Die auf einer Rothschild’schen Villa war geradezu famos! Wir wußten, daß, wenn im Keller Nichts zu finden war, irgendwo anders der Stoff gelagert sein mußte. Transport per Eisenbahn – da sagte ja überall die militärische Bahnverwaltung der Franzosen: Ist nicht! Na, Patrouillen ausgeschickt und nun Schnee oder Erde oder Moos untersucht, wo Verdacht! Richtig! In einer Einsiedelei, einem Ding, in das kein Mensch hineingekrochen wäre, weil Alles mit Fichten umstanden war und sozusagen geradezu gräulich aussah – auch wohl Franktireurs und offenbare Meuchelmörder drin verborgen sein konnten – kurz, unsere Jungens kriegten die Geschichte bald weg; die Kohlen über’m Boden fielen gleich auf und da hatten wir dann den klaren Epernay. Was nicht genossen wurde, zerschlugen die Bursche und so überall – leider war das Vergnügen immer nur kurz. Es kam Alarm – wir mußten auf Posten. Graf Udo, im schwarzen Trauerkleide vom Kopf bis zu den Füßen, ernst und sinnend, schlank wie Ottomar, aber hochblond und mit gelocktem Haar, machte eine düstere Miene. Ottomar lächelte gezwungen und meinte: Die Germanen sind leider so! Für manche unserer Mitcombattanten hatte sich der Feldzug in eine großartige Verpflegungsfrage verwandelt! Die Lebensmittelanschaffung trat durch die allgemeine menschliche Natur immer in den Vordergrund! Graf Udo sagte ernst: Wie schwungvoll muß der Geist der Mehrheit und der Führer in diesem Kriege gewesen sein, wenn die heilige Sache unter diesem Rückfall in unser altes germanisches Landsknechtwesen nicht gelitten hat –! Na natürlich! war die platteste Zustimmung, wie man sie von Baron von Forbeck nur erwarten konnte.



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978-3-946938-12-5, 640 Seiten, Broschur.