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Morgenbillich

Die Wahrheit über Holger Sudau

Wer war diese sagenhafte Gestalt, die immer wieder in der Fachwelt an den unmöglichsten Stellen zitiert wird oder als unbestechliche Referenzgröße auftaucht? Nun, zunächst einmal ein wüster Säufer, ein Blender und dreister Scharlatan, der den Staat DDR, eine waschechte, menschenverachtende Diktatur immerhin, vollrohr ignorierte; ein begnadeter Dichter, ein unbeirrbarer Mahner und unvergessener Visionär, der aus der seriösen Wissenschaft nicht wegzudenken wäre. Kurz: ein Mann mit neunhundertneunundneunzig Gesichtern – ein Arnold Hau der DDR.
Aufsehenerregende Materialien zu Holger Sudaus hochintensiver Vita (1961-1990) hat Herausgeber Michael Rudolf in jahrelanger mühseliger Kleinarbeit zutage gefördert und im Bestand gesichert. Gleichwohl ist es wenig, worauf sich seine sensationellen Thesen stützen ließen, um das einigermaßen plastische Bild einer äußerst widersprüchlichen Figur für die breitere kritische Öffentlichkeit zu formen. Sudaus zum Teil aberwitzig verworrene Aufzeichnungen, eine Handvoll total unbrauchbare Fotos, willkürliche Zeugenaussagen, amtliche Dokumente und völlig beliebige Gerüchte – mehr war nicht zu haben.


Leseprobe:

Hans Sudaus Haar hatte mittlerweile einen nahezu flüssigen Aggregatzustand erreicht, in dem es dank einer Überdosis Körperfett am Schädel gastierte und sich in Schulterhöhe zu einem speckigen Gespinst gespaltener Spitzen verdünnte. Obendrein hatte ihm der Hautarzt gegen seinen exquisiten Schuppenwurf eine Schwefelsalbe verschrieben. Lippmann erwähnte »markstückgroße Flechten, die es dem Schädelknochen mühelos ermöglichten, völlig neue Geltung zu erlangen«. Zeitgleich schlugen hundert kleine Höllen auf Holgers Haut ihr Lager auf und gaben ihm einen überzeugenden Begriff von den Wundern der Gleichzeitigkeit. Der Spiegel gab einen pustolösen Kopf wieder, der wie eine Schüssel Strudelwürmer aussah. Was nutzte Sudau da das nächtliche Abhören der Hitparade auf dem englischen Luxemburger oder das Sammeln von Autogrammpostkarten? Was brachte das magische Wissen, welche Hits demnächst von Sweet, Slade oder T. Rex zu erwarten wären? Nichts. Er konnte diese Magie nicht in dauerhafte Anerkennung bei der Lissy, der Petra und der Ute ummünzen.
Er probierte es mit der Tanzstunde. Und weil er der ersten derartigen Veranstaltung getrieft hatte, durfte er mit einem Geschöpf vorliebnehmen, das den Eindruck erweckte, es pflegte seine Zahnreihen mit schottergrober Leberwurst. Viel zu groß, arm an geistig beweglicher Habe, den Mund rappelvoll mit Fliegen. Die über und über herrschsüchtigen Füße machten sich bei jedem Schritt Holgers bescheidene Zehen untertan. Nur angeborene Rücksichtnahme verbietet uns die Preisgabe des Namens von Karin Heinecke. Noch mal Fehlanzeige.
Sudau versuchte sich als Arrangeur und rief in der Weihnachtszeit 1974 mit vier Mitschülern ruckzuck eine kleine gemischtgeschlechtliche Combo ins Leben (Line up: Tuba/Trompete/Piano/zwei Vokalistinnen). In Alters- und Pflegeheimen der Stadt leisteten sie mit trashigen Versionen von weihnachtlichem Liedgut Sterbehilfe, bis sie von den Stationsschwestern davongejagt werden mußten. Abermals Fehlanzeige bei den Mädels.



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978-3-938568-14-9, 184 reich bebilderte Seiten, fadengeheftetes Hardcover, ehemaliger Preis: 17,- Euro.