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Pädagogik macht dumm

Zur Kritik einer mächtigen Instanz

Der vorliegende Band versammelt eine Reihe von Aufsätzen, die ich in den Jahren 1988-98 für die vom Institut für Pädagogik und Gesellschaft in Münster herausgegebene Zeitschrift »Pädagogische Korrespondenz« geschrieben habe. Diese Zeitschrift verfolgt die Absicht, die Theorie und Praxis der Pädagogik mit den Mitteln und im Geiste der Kritischen Theorie der Gesellschaft zu untersuchen, wie sie im 20. Jahrhundert von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno fortgeschrieben wurde.
In seinem moralphilosophischen Hauptwerk, den »Minima Moralia«, schreibt Adorno: »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« An diese Überlegung schließt der Titel dieses kleinen Bändchens an: Es kommt darauf an, sich nicht dumm machen zu lassen. Und: Pädagogik ist eine gesellschaftlich mächtige Instanz, die dumm macht.
So provokativ die Behauptung klingen mag, so wenig spektakulär ist sie, wenn man den Grund für diesen Tatbestand bedenkt: Die Pädagogik als Reproduktionsinstanz unserer Gesellschaft – als solcher ist hier von ihr die Rede – dient in den seltensten Fällen dem Zweck, der ihr von ihren Lobredner und Verteidigern häufig angedichtet wird: der Aufklärung als Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Das Gegenteil ist der Fall: Primärer Zweck pädagogischer Akte ist es, die Menschen an ihrer Selbstbefreiung, ja selbst am Gedanken daran zu hindern, sie vielmehr anzupassen, auf die gegebenen Zustände einzuschwören. Das gilt für alle Beteiligten: Kinder, Eltern, Lehrer(innen), Therapeut(inn)en, Wissenschaftler(innen) und alle anderen, die innerhalb unserer Gesellschaft dazu angehalten werden, sich gemäß den Normen der etablierten und wirkmächtigen Pädagogik zu verhalten.
Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist freilich oft subtil. Gerade weil Pädagogik ihrem Anspruch nach an der Idee von Emanzipation partizipiert, merken Pädagog(inn)en häufig nicht, dass ihre Theorie oder Praxis zu diesem Anspruch konträr steht. Die Undurchdringlichkeit des gesellschaftlichen Zwangs macht das Handeln undurchschaubar. Das ist der Grund, warum schon Adorno die Aufgabe, sich nicht dumm machen zu lassen, für fast unlösbar hielt. Meine Aufsatzsammlung möchte zu dieser Aufgabe einen wenn auch bescheidenen Beitrag leisten. Bei aller gebotenen Skepsis lebt sie von der Hoffnung, dass der kritische Gedanke fähig ist, der herrschenden Verblendung etwas entgegenzusetzen.
Für die Neuveröffentlichung habe ich den Text stilistisch überarbeitet. Die Aufsätze sind in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens in der »Pädagogischen Korrespondenz« angeordnet und spiegeln daher auch den Emanzipationsprozess des Autors wider. Manches, was ich vor zehn Jahren schrieb, würde ich heute sicher anders formulieren. Dass es dennoch in der alten Form stehen bleibt, geschieht aus der Einsicht des Autors, vor der Dummheit genauso wenig gefeit zu sein wie alle anderen.
Mein Dank gilt Marion Pollmanns für die redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. (Michael Tischer)


Leseprobe:

Prawda
Bertolt Brecht als Pädagoge

Immer wieder haben sich im Laufe der Geschichte Erzieher mit der Frage beschäftigt, wie der nachfolgenden Generation die einmal gewonnenen Einsichten und Wahrheiten des gesellschaftlichen Lebens und Denkens zu vermitteln seien. Gelang ihnen eine Antwort, wurden sie zu Klassikern der Pädagogik.
Auch Bertolt Brecht, der Lehrstückeschreiber, hat sich der Erziehungsproblematik angenommen und es droht ihm dasselbe Schicksal: Er, der einst als »Bürgerschreck« galt, wird heute in die Schar der Klassiker eingereiht. Wie erklärt sich dieses Phänomen?
Der vorliegende Text basiert auf der These, dass schon eine gründliche Analyse eines kleinen Ausschnittes aus Brechts Werk eher über das Phänomen Aufschluss geben kann als die extensive Lektüre seiner »Gesammelten Schriften«.

»Höre beim Reden!
Sag nicht zu oft, du hast recht, Lehrer!
Laß es den Schüler erkennen!
Strenge die Wahrheit nicht allzu sehr an:
Sie verträgt es nicht.
Höre beim Reden!«
(aus: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 10, Gedichte 3,
werkausgabe edition suhrkamp, S.1017)

Der erste Blick

Seit jeher ahnen sensible Schüler etwas von der immanenten Unwahrheit der Pädagogik, dass nämlich der Lehrer vielleicht nicht jener gütige »Anwalt des Kindes« sein könnte, als der er sich gerne darstellt, sondern ein Manipulator und Sachwalter fremder Interessen. Der Lehrer steht in der Gefahr, seine Autorität gegenüber dem Schüler auszunutzen.
Daher wirkt es wohltuend, dass Brecht sich dem autoritativen Lehrer mahnend entgegenstellt. Gleich viermal hallt diesem Brechts Imperativ entgegen und zeigt ihm an, auf welch gefährlichem Terrain er sich befindet: Sag nicht! Lass es! Strenge nicht an! Höre! Brecht tadelt ein typisches Lehrerlaster: die Rechthaberei.
Immer will der Lehrer recht haben. Das hält auf die Dauer kein Schüler aus. Dieser will die Dinge selbst erkennen. Mag auch der Lehrer als der Ältere und Überlegene im Besitz der Wahrheit sein: Wenn er sie seinen Schülern erfolgreich vermitteln will, darf er nicht allzu sehr auf sie pochen, sie nicht überanstrengen.
Zwar gibt Brecht keine konkreten Handlungsanweisungen: Dem Lehrer bleibt ein Spielraum zu entscheiden, wie oft Rechthaben »zu oft« ist und wann sehr anstrengend »allzu sehr« ist. Aber er hilft dem Lehrer mit einer Klugheitsregel: Fall nicht mit der Wahrheit ins Haus, lass den Schüler sie selbst erkennen.
Brecht vermeidet Unterrichtsrezepte: Der Lehrer muss jeweils prüfen, ob er die Schüler überwältigt. Die Vermittlung der Wahrheit ist ein »dialogischer Prozess«: daher soll der Lehrer beim Reden darauf hören, was der Schüler sagt (im heutigen Pädagogendeutsch: »Man muss die Schüler da abholen, wo sie stehen«). Der Lehrer wird daran erinnert, dass er nicht um seiner selbst willen unterrichtet: Er will die Schüler überzeugen, also muss er beim Reden auf sie hören, muss darauf achten, wie die Schüler das Gesprochene aufnehmen, wo sie zweifeln, wo sie etwas nicht verstehen usw.
Von der Kritik an einer schlechten, weil autoritären Pädagogik stößt Brecht zu einer eigenen, konstruktiven vor: Er nimmt Partei für Lehrer und Schüler. Nicht nur soll der Schüler vor dem autoritären Lehrer geschützt werden, der ihm die Wahrheit aufzwingt, auch der Lehrer wird von einer dogmatischen Lehrform entlastet, die nicht zuletzt sein Verhältnis zum Schüler belasten und damit das gesamte Unterrichtsprojekt gefährden würde. Der Unterricht erscheint offen: Die Schüler sind aktiv, selbstverantwortlich, der Lehrer verhilft ihnen zur Erkenntnis.
Bert Brecht erweist sich als großer Pädagoge, als Kritiker der schlechten Praxis und als Deuter einer guten.



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978-3-938568-17-0, Essay 01, 152 Seiten, Klappenbroschur, ehemaliger Preis: 14,- Euro.