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Und die Titanic fährt doch

Nordatlantik-Krimi mit Rezepten

14. April 1912, 23:39 Uhr. Was jetzt? William McMaster Murdoch, der Erste Offizier, steht schockstarr auf der Außenbrücke der Titanic. Vor ihm der Eisberg! In den wenigen verbleibenden Sekunden trifft Murdoch eine völlig unorthodoxe, jedem Instinkt zuwiderlaufende Entscheidung! Mit dem Erfolg, dass er zwar anderthalbtausend Menschen das Leben rettet, nun aber von den aufgebrachten Reederei-Oberen attackiert wird. Denn die elegante Buglinie des Luxusdampfers hat Schaden genommen! Murdochs Gedanken schlagen Kapriolen! Und wieso grinst ihn der Revolver so auffordernd an, der da vor ihm auf dem Tisch der Kabine liegt?


Leseprobe:


»Herein«, brülle ich mitten hinein in dieses verschüchterte Klopfen.
Die Tür geht auf, und auf der Schwelle zu meiner Haftkabine nimmt eine Gestalt zögerlich Haltung an. Ich kann beim besten Willen nicht ausmachen, um wen es sich handelt. Das verblassende Licht der Abenddämmerung hat meinen Fantasieausflügen in die submarine Hundertjahreszukunft gereicht, und also hab‘ ich überhaupt nicht gemerkt, dass ich mal langsam das Licht anmachen könnte. Erst jetzt, wo ich diese Schattenfigur im Gegenlicht des hellen Flurs im Türrahmen stehn sehe, fällt mir auf, wie finster es in meiner Kabine schon ist.
»Treten Sie ein«, sage ich noch mal, in der Hoffnung, dass ich ihn erkennen könnte, würde er erst mal ein paar Schritte aus dem Flurlicht heraus auf mich zukommen.
Der Schattenriss-Seppel kommt der Aufforderung nach, und erwartungsgemäß entpuppt er sich, als er die Flurtür hinter sich zugezogen hat. Weniger erwartungsgemäß allerdings: als Lightoller.
Damit erklärt sich auch das zurückgenommene Verhalten, das ewig lange Verharren auf der Schwelle. Muss ihm reichlich peinlich sein, hier seinen direkten Vorgesetzten in einer so erniedrigenden Lage vorzufinden: degradiert, seiner Uniform, seiner Ehrenzeichen, seiner Identität beraubt. Von der Schlaflosigkeit der letzten Nacht und den Grübeleien des Tages gezeichnet.
Auch wenn bezüglich des Debakels keine Schuld auf Lightollers Schultern lastet – er hatte mir 40 Minuten vor der Eisbergkollision die Wache übergeben –, er also von Gewissensbissen ungetrübt hier stehen kann, fühlt er sich tief unter der Schädeldecke wahrscheinlich trotzdem irgendwie mitverantwortlich. Auch er hatte schließlich der sträflichen  Missachtung sämtlicher Eiswarnungen, derer der Alte sich schuldig gemacht hatte, nicht widersprochen, sondern mir bei der Wachübergabe auch Captain Smiths Befehl, ohne auch nur das leiseste Fragezeichen hinzuzufügen,  weitergegeben, dass wir nur bei Sichtverschlechterung die Geschwindigkeit zu drosseln hätten, also nur im Falle, dass es neblig oder diesig würde.
Lightoller wagt nicht, mir in die Augen zu sehn. Und ich finde irgendwie Spaß daran,  meinerseits aus zusammengekniffenen Augenschlitzen giftige Stacheln in seine Pupillen zu bohren, die mit zitternden Ausweichmanövern befasst sind, um meinen eisernen Blicken zu entkommen. Völlig verdattert steht der arme Kerl in der Mitte meiner … ja, soll man sagen: Zelle? Und schweigt. Weniger beharrlich, wie‘s aussieht, als ratlos.
Irgendwann, nachdem er geraume Zeit das böse Spiel meiner Blicktorpedos ertragen hat, scheint er sich wieder darauf zu besinnen, mit welchem Auftrag er eigentlich hierher entsandt worden ist. Jedenfalls greift er von plötzlicher Entschlossenheit erfasst ins Innere seiner Uniformjacke und zieht einen Metallgegenstand heraus, den ich aus dem Augenwinkel nicht identifizieren kann.
Während ich mit offen zur Schau getragenem Triumph begutachte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt, legt er das Ding schweigend auf das winzige Wandregal neben meinem Bett, ohne dass ich die Waffen meiner Pupillen auch nur für eine Sekunde milde gestimmter Gnade von seinen Augäpfeln abgezogen hätte. Erst als er zum zweiten Mal in die Innentasche seiner Jacke greift und diesmal mit spitzen Fingern einen kleinen Gegenstand zu Tage fördert, lasse ich mich dazu herab hinzusehn und … und werde bleich: ein Projektil!
Eine Kugel.



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978-3-941895-18-8, Mord und Nachschlag 9, Broschur, 340 Seiten, auch als E-Book in allen gängigen Formaten erhältlich für 5,99 EUR!