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Alte Autos und Rock'n'Roll

Der rasende Rezensent 1

Schon seit geraumer Zeit ist der Popkritik ein bisschen unbehaglich zumute. In Anbetracht der schleichenden Entropie der Popkultur im World Wide Web argwöhnt sie einen Verlust an Reputation. »Crisis, what crisis?«, hält Frank Schäfer diesem kulturpessimistischen Befund entgegen. »Woraus resultieren denn Autorität und Überzeugungskraft eines Kritikers? Vor allem aus seiner Beobachtungsgabe, seinem Scharfsinn, seinem sprachkreativen, expressiven, narrativen Talent. Gute Kritiker sind zuallererst gute Schriftsteller. Und solange sich Popkritik auf ihre genuin literarischen Fähigkeiten besinnt, wird man sich um ihre Bedeutung keine grossen Sorgen machen müssen.«
Gewissermaßen als Probe aufs Exempel versammelt Schäfer hier seine besten Rockstories aus den letzten zehn Jahren. Er illuminiert seine frühe Faszination für Thin Lizzy, besucht die letzten aufrechten Hippies, trifft das Phantom Peter Licht, nimmt Michael Jacksons Schwärmerei für Peter Pan ganz ernst, diskutiert mit Klaus Theweleit über das Ingenium von Jimi Hendrix, erzählt leidenschaftlich von seinen Freuden und Leiden beim Hören schwarzer Musik, lässt dem ersten deutschen Rockkritiker Gerechtigkeit widerfahren und landet am Ende sowieso immer da, wo es richtig laut wird. »Alte Autos und Rock’n’Roll« bildet den Auftakt der Trilogie »Der rasende Rezensent«, einer auf drei Bände angelegten Edition mit Schäfers gesammelten Essays.


Leseprobe:

Dylan ist ein Verräter
         
Kürzlich wurde Dylans »Like A Rolling Stone« von dieser einen traditionsreichen amerikanischen Musikzeitschrift zum besten Song aller Zeiten gewählt, und ihr deutscher Ableger hat das Votum – es soll dabei sogar mit rechten Dingen zugegangen sein – pollmäßig absolut bestätigt. Ein Freund beichtete mir daraufhin, naja, ihm habe »Volle Lotte« von den Rodgau Monotones immer irgendwie mehr zugesagt.
Greil Marcus, der derzeit wohl bekannteste lebende Musikkritiker, wurde auch gefragt, und er hat mit Sicherheit für Dylan gestimmt, für jenen Song, der aus dem guthriesken Hobo-Barden, den freewheelin’ Folkie einen kernigen Rock’n’Roller gemacht hat – und das war sein heiliger, patriotischer Ernst. Sein neues Buch liefert gewissermaßen die Begründung nach. Es ist eine großangelegte, über 300-seitige Illumination dieses vieldeutigen »Monstrums«, das mit seiner sechsminütigen Laufzeit das erlaubte – nur halb so lange – Single-Format der Zeit sprengte, das den Radio-Sommer des Jahres 1965 beherrschte und vielen Angst einjagte, nicht zuletzt den alerten, quasi-angestellten Tin-Pan-Alley-Songschreibern, weil er ihnen schlagend vorführte, was ein Popsong auch können könnte, wenn man so einen denn schreiben könnte ... »Monstrum« aber vor allem auch deshalb, weil sich »Like A Rolling Stone« von seinem Schöpfer zu emanzipieren schien, zu einer autarken Song-Existenz wurde, die – so sieht es jedenfalls Marcus – beinahe mehr Kontrolle über Dylan ausübte, als der über sie. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Dylan nach der sagenumtobten Studio-Session, in die sich der Studiogitarrist Al Kooper eingeschmuggelt hatte, um dann als Keyboarder zu reüssieren und mit seinem Orgel-Riff dem Song endlich zum Stehen zu verhelfen, selten in der Lage war, ihn auf der Bühne adäquat zu reproduzieren. Marcus treibt eine ziemlich mächtige Herde Pathos durch die verwinkelten Straßen seiner Prosa, um das, was da passierte in New York am 16. Juni 1965 im Studio A von Columbia Records, ein für allemal als ein historisches Ereignis zu manifestieren, »das sich zu den anderen Ereignissen gesellte, die seine Zeit prägten«. Er meint nicht das »Ereignis seiner kommerziellen Veröffentlichung« und auch nicht »das Ereignis, das der Song darstellte, als er an die breite Öffentlichkeit gelangte«, sondern das »Ereignis des Dramas, das von der Darbietung an sich ausgelöst wird«. Er meint das inkommensurable, geschichtsträchtige, wirkungsmächtige Kunstwerk – denn nichts anderes ist dieser Song, schärft er hier ein. Warum sonst dieser fulminante exegetische Aufwand!
Auch wenn Marcus seine Methode nicht eigens theoretisch reflektiert und alles andere als stringent argumentiert, sein Fundament ist die Diskursanalyse. Oder aber pure Religiosität! Denn Zufälle gibt es in seinen Überlegungen ja nicht. In einem bestimmten historischen Kontinuum auftretende Analogien, Strukturähnlichkeiten und Korrespondenzen haben bei ihm immer etwas zu bedeuten – als säße da weiterhin ein Weltenlenker, der Hü und Hott auf Erden gar sinnvoll hingedeichselt hat. Mit anderen Worten: Greil Marcus produziert Sinn; dass dieser vielleicht nur nachträglich gemacht wurde und nicht einfach so, von vornherein existiert – diese Frage stellt sich ihm nie. Aber vielleicht darf man auch gar nicht so streng sein, sollte das alles eher als intellektuelles Spiel betrachten und seine Ausführungen einfach nach ihrer jeweiligen Evidenz beurteilen. Denn scharfsinnig ist das ja allemal, wenn er den historischen Kontext von 1965 skizziert – die Krawalle in Watts, dem schwarzen Ghetto von Los Angeles, die massiven Truppenverlegungen nach Vietnam, die ungebrochene Diskriminierung des schwarzen Amerikas und die zugleich aufkeimende, sich auf die alten Gründungsväter-Ideale berufende Protestbewegung –, und diese dann konstatierte Divergenz von Mythos und Realität  in God’s own country in »Like A Rolling Stone« aufspürt. Für ihn ist das ehemals so verteufelt ehrenwerte, selbstgefällige, alle Warnungen in den Wind pfeifende Mädchen, das nun von Dylan bitter-sarkastisch beschimpft wird, weil es seine Unschuld längst verloren hat bzw. weil es nie so unschuldig war, wie es immer tat, nicht zuletzt die Personifikation des zeitgenössischen Amerika: »Die Nation stand damals an einem Scheideweg, wo sie ihre Verheißungen von Freiheit und Gleichheit entweder beim Wort nehmen oder eingestehen musste, sogar sich selbst, dass diese Verheißungen Lügen waren ...«
Vielleicht nimmt ja ein ähnlich tickender Musikhistoriker dermaleinst den Stab auf und interpretiert der Nachwelt den Umstand, dass ausgerechnet in Zeiten, in denen über solche Vorhöllen wie Abu Ghraib oder Guantánamo Bay der stolze Sternenbanner flattert, dieses Lied auf Platz 1 der ewigen Bestenliste steht. Scheidewege, wohin man blickt ...



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978-3-941895-04-1, Essay 15, Broschur, 174 Seiten